Drag unchi


Es war nicht Razvan. Auch nicht Manuel aus Popescu. Gegenwärtig drängten sich eigenartige Empfindungen an die Oberfläche, die sehr weit in seinen Erinnerungen zurücklagen. Gefühlsbewegungen, vor denen er sich fürchtete, mit denen er Schmerzen verband, kamen zum Vorschein.

Benommen von diesen unerwünschten Regungen schritt er weiter nach hinten. Er hätte sich einfach umdrehen und davon laufen können, doch sein Kopf schien wie benebelt, seine Gedanken wie eingefroren. Er fühlte sich gefangen, als würde ihn jemand zwingen, zu bleiben.

Er drückte Veit an sich. Von beiden Seiten näherten sich nun zwei Menschen.

»Luca Traian Constantinescu?«, erschütterte eine dunkle kräftige Stimme die Nacht. Traian fuhr ein Schauer über den Rücken.

»Nepotu!«, rief die Stimme.

Durch diese Anrede hervorgerufen, spielte sich in einem Bruchteil einer Sekunde seine gesamte Kindheit vor seinem geistigen Auge ab. Er sah sich mit seinem Vater und seinem Onkel um die Wette reiten. Die große Burg, in der er mit seinen Eltern und seinem Onkel gelebt hatte, bevor sie zu dieser Reise aufgebrochen waren. Traian sah sich unter den Gästen der prunkvollen Feste, die seine Familie gegeben hatte. Er sah sich in den tröstenden Armen seiner Mutter liegen.

Von den Erinnerungen, die er die letzten Jahre verdrängt hatte, eingeholt, sank er auf die Knie. Wie eine Seifenblase zerplatzte die Vorstellung seines neuen Lebens, das er mit Liana verbringen wollte. All die Dinge aus seiner mentalen Kiste fielen wie ein schwerer Vorhang über ihn herab, drohten ihn mit der Masse unter sich zu begraben. Gedankenverloren ließ er Veit los. Drei Tränen fanden ihren Weg aus dem verletzten Inneren und rannen aus dem Augenwinkel die Wange herunter.

Erschrocken schaute Traian auf.

Eine Hand legte sich über sein Gesicht, wischte mit dem Daumen die Tränen zur Seite. »Luca! Drag nepotule, lieber Neffe. Da nu se poate, tu esti, das gibt es doch nicht, bist du es wirklich?« Heftig drückte der Mann ihn an sich, aber nur für einen kurzen Augenblick. »Seit sieben Jahren! Seit sieben verdammten Jahren versuche ich herauszufinden, was euch widerfahren ist.«

Traian fand seine Selbstbeherrschung wieder. Er blinzelte mehrmals, schämte sich für den Anfall von Schwäche. »Drag«, kam ihm über die Lippen. Das erste rumänische Wort nach dieser langen Zeit. »Drag unchi, lieber Onkel.«

Inout lächelte. »Luca Traian Constantinescu, du bist es wahrhaftig!«

Traian verdrängte die bewegenden Erinnerungen, die damit verbundene Reise mit seinen Eltern, die ein so abscheuliches Ende gefunden hatte. Er schluckte heftig. »Traian! Luca starb mit seinen Eltern.« Er bemerkte die zwei menschlichen Leibwächter seines Onkels zu beiden Seiten und Veit, der sich neben ihm auf den Waldboden gesetzt hatte.

Inout nickte, wirkte dabei nachdenklich. »Traian? Verstehe.« Er hatte sich zu Veit hingekniet, nun erhob er sich und reichte Traian die Hand. »Traian, drag nepotule, lass uns nach Hause fahren.«

Nach Hause?

Ja! In Rumänien bei lnout gab es ein Zuhause. Ein Ort, der mit wundervollen Erinnerungen gefüllt war, wo er willkommen war. Ein Ort, den er ohne nachzudenken sein Zuhause nennen konnte.

Im Laufe der Zeit im Keller hatte er diesen Ort, ja sogar seinen Onkel aus seinem Gedächtnis gestrichen. Traian stand auf, nahm Veit bei der Hand. »Ja.« Er wollte nach Rumänien zurück.

Aber nicht ohne Liana! Und seine offenen Rechnungen? Unmöglich durfte er jetzt verschwinden.

»Nein!«, entschied er schließlich.

»Nein?« Inout zog seine Stirn in unzählige Falten.

Traian fühlte sich zerrissen. »Die Zeit ist noch nicht reif. Es gibt hier für mich einige Dinge zu erledigen.«

Inout schaute demonstrativ zu einem der Leibwächter. »Das kann Karl für dich tun.«

Nein, so einfach war das nicht. »Niemand kann mir das abnehmen.«

Inout legte seine Hand auf Traians Schulter. »Traian, Drag nepotule, was auch immer du zu erledigen hast, es wird meinen Bruder nicht zum Leben erwecken und Vergangenes nicht ungeschehen machen.«

Traians Stimme klang energisch. »Aber es wird mich befriedigen.« Wie gut diese Worte seine Empfindungen trafen.

Inout schien ablenken zu wollen. Er schaute zu Veit herunter. »Wer ist das?«

In diesem Augenblick fühlte sich Traian nicht in der Lage, die Geschichte wiederzugeben. »Weiß ich nicht.« Die Dinge waren zu kompliziert.

»Er macht aber nicht den Eindruck als wüsste er nicht, wer du bist.«

Traian bemerkte das Chaos in seinem Kopf, welches durch Inouts Erscheinen hervor kam. »Gib mir etwas Zeit. Drag unchi.« Traian sprach jetzt leise.

»Drag nepotule«, Inout nahm Traian bei den Schultern. »Ich habe sieben Jahre gehofft, gezweifelt und gebangt. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.«

Ja, das war sein Onkel, wie er ihn von damals kannte, verständnisvoll, tolerant. Inout kniete sich zu Veit, wischte ihm die Blutreste aus dem Mundwinkel. In diesem Moment konnte Traian Liana und Victor wahrnehmen. Sie waren auf dem Weg zu ihm.

Eine solche Menschenansammlung, die vermutlich ihm gewidmet war, fühlte sich für ihn mehr nach Bedrängnis an, als nach einem feierlichen Wiedersehen. Traian drehte sich um und ging.

Nicht mal zwei Schritte kam er weit. Die beiden Hünen von Leibwächtern ergriffen ihn und hielten ihn an den Oberarmen fest. Traian spürte seinen Hals eng werden, sein Herzschlag verdoppelte sich. Mit Leichtigkeit hätte er sich befreien können, doch sein Onkel verfolgte ihn nicht mit bösen Absichten. Allerdings behagte Traian dieses Gefühl von Bedrängnis nicht.

»Traian«, Inout kam ihm nach, dicht an ihn heran. »Victor sagte mir bereits, dass es mit dir schwierig werden könnte.« Er legte beide Hände auf Traians Wangen und starrte ihm in die Augen. »Glaubst du, ich habe diesen langen Weg gemacht, um ohne dich nach Hause zurückzukehren? Glaubst du, dein Vater würde von dir erwarten, dein junges Leben mit Rache zu pflastern?« Er nahm seine Hände herunter, mit einer Kopfbewegung wies er die Leibwächter an, Traian loszulassen. »Ich bitte dich, im Namen von Nicolae Luca Constantinescu, weise nicht deine Familie von dir.«

Hinter Inout sah Traian Liana mit Victor und Sergiu durch den Wald kommen. Allerdings fegten Inouts Worte alles Positive zur Seite.

»Im Namen von Nicolae Luca Constantinescu?« Traian vergaß alle Höflichkeit. »Du hast keine Ahnung, was in meinem Vater vorging, als sie in seinem Gehirn so lange herumgestochert haben, bis sein Leben im Namen der Wissenschaft auf dem OP-Tisch ein Ende fand!«

Inout riss seine Augen weit auf, seine Gesichtsmuskulatur erschlaffte.

Traian schluckte, »also sage niemals wieder: Im Namen von Nicolae Luca Constantinescu.« Traian wiederholte laut. »Niemals!« Er zitterte, so sehr wühlte ihn dieser Satz auf. Ihm wurde aber auch klar, dass er das erste Mal nach dieser Vergangenheit Gefühle anderen gegenüber äußerte. Wie gut ihm das tat, wie herrlich sich diese Erleichterung anfühlte.

Inout hob schlichtend die Hände. »Traian, Drag nepotule, es war nicht meine Absicht ...«

»Ich weiß nicht einmal, was sie mit ihren Leichen gemacht haben.«

Veit löste sich von Traians Hand und marschierte auf Liana zu. »Lia, Lia.«